Freitag, 6. März 2015

Die Krise - Teil 3: Der Pikaljowo-Komplex

"In Pikaljowo stand eine Werk, von dem die ganze Stadt abhing,
dort arbeite das Volk, friedlich, und es streikte nie,
aber als das Werk geschlossen wurde, begann der Aufruhr,
wer gibt uns das Werk zurück um uns zu beruhigen?
Putin, Putin fährt nach Pikaljowo,
Putin, Putin macht es wieder gut.
Putin, Putin komm schnell und bestrafe sie,
Putin, Putin unser Premierminister,
Wer in der Krise Werke schließt,
Der bekommt's von Putin."

Mit diesem Text besang die russische Band Murzilki International im Jahr 2009 treffsicher ein wichtiges Grundprinzip des russischen Kapitalismus. Die Hintergrundgeschichte: Im Herbst 2008 wollte der Oligarch Deripaska einen Zementzulieferer restrukturieren und dort Zement herstellen, anstatt die Zutaten für Zement an ein anderes Werk der Stadt zu verkaufen. In einer Kettenreaktion, die für die sowjetisch geplanten Wertschöpfungsketten Russlands typisch sind, standen plötzlich zwei Firmen der Stadt ohne ihren entscheidenden Zulieferer da und kündigten Massenentlassungen an. Die gesamte Stadt, die eigentlich nur um diese Fabriken herum gegründet wurde, stand vor dem Aus. Die Arbeiter der Firmen organisierten Demonstrationen in Pikaljowo und Sankt Petersburg und errichteten Straßenblockaden. Am 4. Juni reiste Putin mit einer beeindruckenden Entourage per Helikopter an und zwang Deripaska medienwirksam wie einen Schuljungen dazu, vor laufender Kamera die Rücknahme seiner Entscheidung zu unterschreiben. Als Deripaska am Ende des "Schauprozesses" an seinen Platz am Konferenztisch zurückkehren wollte, wurde er in strengem Ton aufgehalten: "Rutschku vernite" - Putin verlangte noch seinen Kugelschreiber zurück.

Deripaska hat sein Wirtschaftsimperium unter Putin erfolgreich ausbauen können. Das Video zeigt in wenigen Augenblicken, was der Schlüssel zum Erfolg ist - Unterordnung, sich auch mal erniedrigen lassen, es pragmatisch sehen. Das Video zeigt auch, dass Zahlen wie die Staatsquote in Russland kein guter Indikator für die Macht des Staates in der Wirtschaft sind. Auch in die Entscheidungen privater Unternehmen kann sich die Exekutive problemlos einmischen.

Vor allem aber haben die Arbeiter in anderen Städten ganz genau hingesehen, wie ihre Pikaljower Kollegen die Krise überwunden haben. Es wäre für Putins Image als starker Mann außerordentlich schlecht, wenn er für die hart arbeitende Bevölkerung der Industriestädte nichts tun könnte. Es lässt sich medial noch verkaufen, wenn es den "arroganten" Großstädtern schlecht geht, aber die loyalste Gefolgschaft fallenlassen - dann sähe Putin machtlos aus, was für einen autoritären Präsidenten ein großes Problem ist.

Eine ähnliche Situation entstand kürzlich in der Stadt Twer, die unweit Moskaus an der Wolga liegt. Twer ist ein wichtiges Zentrum des russischen Maschinenbaus. Unter anderem werden dort Eisenbahn-Waggons hergestellt. Als zuletzt die Aufträge der russischen Staatsbahn ausblieben, kündigte das Management des Unternehmens an, 2000 Mitarbeiter zu entlassen und die Produktion auszusetzen. Daraufhin meldete die Gewerkschaft eine Protestkundgebung in Twer an. Das Motto der Aktion: "Nein zu Entlassungen!". Das sah man im föderalen Zentrum in Moskau überhaupt nicht gerne, sodass der zuständige Gouverneur dazu angehalten wurde, den Protest abzuwenden. Der Gouverneur versuchte daraufhin, Druck auf die Werksleitung auszuüben, von den Entlassungen Abstand zu nehmen. Die Werksleitung verwies auf die fehlenden Aufträge und schob den schwarzen Peter weiter an die Staatsbahn. Die Staatsbahn fing sich einen Rüffel von oberster Stelle ein, weil sie kürzlich aus Spanien einige Waggons gekauft hatte, was so garnicht ins derzeitige politische Klima passte. Die Staatsbahn klagte dann wiederum, dass das Finanzministerium ihr keine finanzielle Unterstützung zuteil werden lasse. Schließlich ließ sich die Staatsbahn mit einer Finanzspritze dazu bewegen, zusätzliche Aufträge an die Twersker Waggonfabrik zu geben und damit die Arbeitsplätze für's erste zu retten. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit musste die Staatsbahn damit politische Ärgernisse lösen - zuletzt wurden unrentable Nahverkehrszüge wieder eingeführt.

Dass eine derartige Politik auf Dauer nicht gut geht, ist abzusehen. Die aktuelle Krise hat einen anderen Charakter als die Finanzkrise im Jahr 2009. Der größte Unterschied ist neben dem Absturz des Rubels, dass die russische Wirtschaft bereits vor der Krise stagnierte. Zwar wird es keinen Konjunktur-Einbruch um 8% geben wie 2009 (u.a. weil jenseits von Öl und Gas die Rohstoffpreise stabil sind), aber dafür wird die Krise länger andauern. Aufgrund des fallenden Ölpreises verfügt der Staat nicht mehr über die Mittel, um alle Unternehmen zu retten, auch wenn inzwischen ein Hilfsprogramm aufgelegt worden ist, von dem auch die Twersker Werke profitieren werden.

Irgendwann, vermutlich im Verlauf dieses Jahres, wird es ein Pikaljowo geben, und Putins Helikopter wird nicht kommen. Was können die Folgen sein? Zunächst wird es natürlich Proteste geben. Allerdings dürfen diese Proteste nicht mit den Kundgebungen der Opposition in Moskau verwechselt werden. Während es in Moskau darum geht, das politische System zu verändern ("wir wollen keinen Zar"), berufen sich die Demonstranten in den kommenden "Pikaljowos" auf das System ("wir brauchen dich, Zar"). Den Arbeitern sind die Oppositionellen in Moskau sehr suspekt. Ein gutes Beispiel dafür ist der Arbeiter Igor Cholomanskich aus einer Panzerfabrik im Ural, der Putin bei einer großen Pressekonferenz live die Unterstützung gegen die Moskauer Proteste anbot: "Wenn die Polizei damit nicht umgehen kann, komme ich mit meinen Männern rüber und verteidige unsere Stabilität!". Die Karriere von Cholomaskich ging daraufhin übrigens steil aufwärts.

Wenn es in diesem Jahr zu Protesten von Arbeitern kommt, wird zunächst die Kommunistische Partei Russlands profitieren. Sie spricht die Sprache der Arbeiter und brachte sich in Twer bereits in Position: Als es um die Proteste der Waggonarbeiter ging, war ein Duma-Abgeordneter der Kommunisten sofort zur Stelle. Je nach Ausmaß der Krise könnten radikal linke Ideen für die Russen also wieder interessanter werden. Bevor es dazu kommt, wird Putin aber alle verfügbaren Ressourcen mobilisieren und selbstverständlich - wie in Pikaljowo - die Oligarchen melken. Dass die russischen Eigentumsrechte eher einem Lehnswesen gleichen, wird daher im Verlauf dieses Jahres sehr deutlich werden.

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